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Title
Singular Pasts. The “I” in Historiography. Translated by Adam Schoene


Author(s)
Traverso, Enzo
Published
Extent
206 S.
Price
$ 28.00; £ 22.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

„The fact is simple: history is increasingly written in the first person, through the prism of subjectivity of the author. […] This invasive rise of the ego puzzles me. […] Is the era of the selfie impacting historical writing practices?“ (S. 2) Zum Glück folgt nach diesem Zitat nicht jenes kulturpessimistische Lamento, das man erwarten könnte. Enzo Traverso plädiert nicht einmal für die Vermeidung des Wortes „Ich“ in wissenschaftlichen Texten. Vielmehr bietet er in seinem schlanken Buch den Abriss einer, wie er findet, signifikanten Entwicklung. Ob man diese Entwicklung bedrohlich finden mag angesichts zahlloser nach wie vor in Passiv und Nominalstil verfasster Bücher, darf man am Ende selbst entscheiden. Der Befund des Autors, dass Historiker:innen öfter als früher eine Autobiografie schreiben oder ihre Familiengeschichte rekonstruieren, stimmt jedenfalls. Für Deutschland sei nur an den Bestseller „Ein Hof und elf Geschwister“ erinnert, in dem Ewald Frie den Wandel des Agrarsektors am Beispiel seiner Familiengeschichte beschreibt. Im norddeutschen Verbundkatalog (GBV) wird interessanterweise diese spezifische Sprecherstimme – die Ego-Histoire eines Historikers – nur am Rande verschlagwortet. Und das ist der Punkt, den Traverso macht: Die selfie histoire beglaubigt das Geschriebene auf neue Weise.

Ursprünglich, so Traverso, haben nur die wirklich bedeutenden Historiker Memoiren verfasst, um ihr Leben wie ein Monument in die Geschichte einzuschreiben. Dieses Monopol hätten sie verloren. Heute schrieben auch weithin unbekannte Historiker ihre Autobiografien – aber nicht, um sich zu monumentalisieren, sondern um den eigenen intellektuellen Weg besser zu verstehen. Der jüngste Trend ist die subjektivistische Geschichtsschreibung, die Traverso irritiert, ein neues hybrides Genre, das weder konventionelle Historiografie noch Autobiografie ist, sondern grundlegende, weithin akzeptierte Prämissen der Disziplin in Frage stellt. Diesen Hybrid seziert er in seinem Buch. Er beginnt mit der Autorenstimme in der dritten Person und der Frage historiografischer Objektivität, skizziert dann das Aufkommen von Historiker-Autobiografien sowie verschiedene „‚I‘ Narratives“, beleuchtet das Verhältnis von Historiografie und Fiktion, um mit kritischen Überlegungen zum „Presentism“ zu schließen.

Das „Ich“ hatte in der Geschichtsschreibung lange eine zwiespältige verifizierende Funktion. Xenophon führte es in einem Text unvermittelt ein, um ihn durch seine Zeitzeugenschaft zu beglaubigen. Thukydides vermied es, um seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ zu objektivieren. Diese abwesende Anwesenheit des wissenschaftlichen Autors setzte sich seit dem 19. Jahrhundert bekanntlich durch. Leo Trotzki verband beide Positionen in seiner Geschichte der Russischen Revolution. Als damaliger Akteur profitierte er von seinen Erinnerungen, als Historiograf beglaubigte er die Objektivität seiner Geschichte durch die Verwendung der dritten Person. Er ließ sich selbst mit seinem Eigennamen auf derselben Ebene wie die übrigen Akteure auftreten.

Warum änderte sich das in den 1980er-Jahren allmählich? Traverso macht mehrere Gründe und Ereignisse aus. Pierre Nora beispielsweise gab drei Jahre nach dem Start seines großen Projektes über Erinnerungsorte eine Sammlung autobiografischer Essays von Historikern heraus, weil sie nun endlich eingestehen müssten, dass „there is a close and quite intimate link between themselves and their work“ (S. 34). Feministische Historikerinnen arbeiteten heraus, wie sich die soziale Konstruktion des „Geschlechts“ in Körper einschrieb. Die Alltagsgeschichte machte die historische Stimme der „kleinen Leute“ stark, und jüngere Historiker:innen mussten sich – zumindest was die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrifft – nicht mehr von ihrer eigenen Rolle in dieser Geschichte distanzieren. Die allermeisten Historiker:innen vermieden nach wie vor das „Ich“, und ihre autobiografischen Texte waren weit von persönlichen Details entfernt. Aber die Grenze zwischen dem Gegenstand, der Geschichte, und den beobachtenden Subjekten, den Historiker:innen, wurde zumindest problematisiert.

Seit der Jahrtausendwende hielt nicht nur das „Ich“, sondern gleich die eigene Person Einzug in die Historiografie, und zwar als „a new kind of historical narrative that, without being autobiographical in the conventional sense of the word, involves a total symbiosis between the historian and his object of investigation“ (S. 47). Die Persönlichkeit etwa der Historikerin Mona Ozouf (geb. 1931) war durch die bretonische Identität, die republikanische Erziehung und den katholischen Konservatismus geprägt – die drei Säulen des modernen Frankreichs, dessen Geschichte sie in ihrer Person exemplifizierte. Ivan Jablonka (geb. 1973) verfolgte „The History of the Grandparents I Never Had“ (2016) und näherte sich derart der Geschichte von Auschwitz. Antoine de Baecque (geb. 1962) durchwanderte die Alpen auf dem Fernwanderweg GR5 und verschaltete seinen Reisebericht mit einer Geschichte des Gebirges („La Traversée des Alpes. Essai dʼhistoire marchée“, 2014). Durch solche Erzählformen, so Traverso, führen die Wissenschaftler:innen die eigenen Zweifel und Schwierigkeiten, die jeden Forschungsprozess begleiten, in ihre Geschichte ein. Das Forschen wird Teil der Geschichte (story) über die Geschichte (history). Dies geschieht nicht bloß vor den Augen der Leser:innen, es bezieht sie und ihre Erfahrungen ein. Aus einem persönlichen „Ich“ (me) wird ein dreifaches „Ich“ (I): das Ich einer spezifischen Beobachtungsperspektive; das Ich, das seine Methode nachvollziehbar macht; und das Ich der Emotionen, das die existenziellen Implikationen der Forschung aufzeigt. „I“ beantwortet weniger die Frage, wie es gewesen sei, sondern sucht vielmehr nach Antworten, wer das „Ich“ ist, woher es kommt und welche Bande es an die Vergangenheit knüpft, stellvertretend für sein Publikum.

Historiker:innen probieren verschiedene Formen literarischen Schreibens aus, sie verpacken die Geschichte (history) in gute Geschichten (stories), ohne – was die vergangenen Ereignisse selbst betrifft – zu fabulieren. Dagegen wehren sich einige Historiker:innen, die ein historisches Spektakel ohne Erklärungswert anprangern. Traverso hält dagegen, dass Literatur Farben, Stimmungen, Stimmen und vermeintlich ephemere Details einfängt, also eine Lebenswelt hinter den historisch greifbaren Fakten erschließen kann. Fakten müssen notwendigerweise in Sprache transformiert werden, sie dürfen aber nicht (durch Sprache) erfunden werden. Historiografische und literarische Imaginationen sind unterschiedlich, aber sie bieten zwei Perspektiven auf dieselbe „Realität“, die methodisch kontrolliert oder fiktional kreativ konstruiert wird. Literatur ist mehr als bloß die hübsche Verpackung für historische Fakten. Die literarische Repräsentation enthüllt eine andere Wahrheit. Deshalb wehrt Traverso die Kritik von Historiker:innen selbst an Büchern wie Eric Vuillards „L’ordre du jour“ („Die Tagesordnung“, 2017/18) dezidiert ab, obwohl dieses beeindruckende Buch literarisch nun wirklich sehr frei mit der Geschichte umgeht und die Regeln historiografischer Objektivierung weit hinter sich lässt. Offenbar erscheinen Traverso solche Bücher als ideale Alternative zur klassischen Geschichtsschreibung und zu historischen Romanen, weil sie reflektiert Fakten und Erzählung verbinden sowie im Narrativ Geschichte repräsentieren, also eine tiefere Wahrheit enthüllen.

Was Traverso wirklich stört, ist das, was er im Anschluss an François Hartog „Presentism“ nennt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts habe der Neoliberalismus – darunter versteht Traverso die radikale Singularisierung von Lebenswegen und deren Einpassung in Wettbewerbsstrukturen – ein neues historiografisches Regime hervorgebracht, das Repräsentation und Perzeption radikal auf die Gegenwart konzentriere. Da viele Menschen nur noch sich selbst begegneten – das Leben als selfie –, werde Geschichte zunehmend „as a story of the self in the present“ geschrieben (S. 144). Die Zukunft entfalle, weil das reflexive Potenzial der Vergangenheit, eine Zukunft zu entwerfen, nicht mehr gefragt sei. Stattdessen werde die Geschichte durch die Kulturindustrie in einen individuellen, partikularen Konsumgegenstand verwandelt und dadurch entpolitisiert – Geschichte als Freilichtmuseum, das man sich selektiv und vergnügt anschaut. Die Vergangenheit evoziere keine utopischen Entwürfe mehr, sondern werde privatisiert, und die „Neue Subjektive Geschichtsschreibung“ sei ein Spiegel dieser Entwicklung.

Trotzdem: Auch die ego-zentrierte selfie-Geschichte, die die objektivierenden, a-personalen Narrative abzulösen scheint, hat für Traverso ihren Wert, vorausgesetzt die Autor:innen „use their ego as a telescope and not as a monad, that they expand the horizon of the subject instead contracting it down to the ‚ground level‘ of an impasse“ (S. 157). Der Autor gesteht der selfie-Geschichte umstandslos zu, politisch sein zu können, wenn nämlich Autoren wie Jablonka es als Aufgabe der Historiker:innen ansehen, die Welt zu reparieren; sie interpretieren die Vergangenheit, um die Gegenwart zu ändern. Man muss nicht notwendig die großen historischen Fresken entwerfen; vielmehr kommt es darauf an, was man mit welcher Methode, Perspektive und Erzählform zu zeigen in der Lage ist. Die Gefahr lauert da, wo Geschichte partikularistisch wird. „A history which is designed only for Jews (or African-Americans, or Greeks, or women, or proletarians, or homosexuals) cannot be good history, though it may be comforting history to those who practice it“, zitiert der Verfasser Eric J. Hobsbawm (S. 151). Von daher, so schließt Enzo Traverso sein überaus faires Buch, sei es nicht gegen die neue Form der Historiografie geschrieben, sondern frage, warum sie auf der Bühne erschienen sei. Diese Entwicklung zeichnet er konzise und anregend nach.

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